von Chiara Pelster, 13.09.2022
Die größte Errungenschaft der EU, der europäische Binnenmarkt, wird nächstes Jahr 30 Jahre alt. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums durch den freien Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen hat die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gestärkt und ist heute unabdingbar geworden. Seitdem sieht sich die EU mit einer Gesundheits- und Sicherheitskrise konfrontiert und der Binnenmarkt ist notwendiger denn je, um die Grundbedürfnisse der Bürger zu erfüllen und die EU als geopolitische Macht auf der internationalen Bühne zu festigen. Doch trotz der Vorteilhaftigkeit des Freihandels beobachtet man zunehmende protektionistische Bestrebungen der Mitgliedstaaten. Es stellt sich somit die berechtigte Frage nach einer neuen Konzeption des europäischen Binnenmarkts, um dem zu begegnen.
Als Brücke zwischen den EU-Institutionen und den EU-Bürgern, lud der Leiter der Vertretung des Saarlandes bei der EU, Christoph Roth, dazu ein, diese Debatte bei einer Veranstaltung mit dem Titel „Binnenmarkthemmnisse und Transaktionskosten – Raum für Verbesserungen?“ anzustoßen. Ministerialdirektorin im BMWK Dr. Kirsten Scholl, Generaldirektorin der DG GROW, Kerstin Jorna und Prof. Dr. Michèle Grégoire der Université Libre de Bruxelles präsentierten dem Publikum Perspektiven für die Weiterentwicklung des Rechtsrahmens und den Abbau von rechtlichen und administrativen Hemmnissen im Binnenmarkt.
I. Es gibt keine Alternative zum Binnenmarkt
Generaldirektorin der DG GROW, Kerstin Jorna, wies darauf hin, dass der Binnenmarkt ein bemerkenswertes und unumkehrbares Projekt ist. Seine Tragweite erschöpfe sich nicht nur in seinem wirtschaftspolitischen Nutzen für die gesamte europäische Wirtschaft, sondern auch im Allgemeininteresse der EU.
Das erste Ziel des Binnenmarktes war der Abbau von Handelshemmnissen, d.h. die Sicherung des Wettbewerbs. Um einen funktionierenden Konsumgütermarkt zu gewährleisten, folgte als nächstes Ziel u.a. die Sicherheit und der Schutz der Verbraucher und der Allgemeinheit vor den im Umlauf gebrauchten Produkten. Heute befindet sich die EU in einer Sicherheits- und Gesundheitskrise (sog. „Permakrise“). Infolgedessen ist die Herstellung des Produkts selbst ebenso entscheidend wie die Art und Weise, wie es zur Verfügung gestellt werden kann. So war im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie der Binnenmarkt ein zentraler Schlüsselfaktor, der die Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen und dessen Spritzen begünstigte. Dadurch möchte er die Versorgung der EU-Bürger, und die Bewältigung der Gesundheitskrise möglich.
Das Problem, so Kerstin Jorna, sei nicht die Regulierung selbst, oder „Hochregulierung“ wie es Kritiker nennen, sondern vielmehr die Umsetzung bzw. Durchsetzung der Mitgliedstaaten. Um der Unübersichtlichkeit des EU-Rechts entgegenzuwirken beschäftigen sich daher die Kommission akut damit nationale Regelungen zu analysieren und Überflüssige nationale Verfahren zu streichen.
Auf binationaler Ebene versucht das Projekt eines europäischen Wirtschaftsgesetzbuches eine Antwort zu geben, indem es eine einfache, einheitliche und auf das notwendigste reduzierte Gesetzessammlung im Bereich des Wirtschaftsrechts anbietet.
II. Rechtsharmonisierung des Wirtschaftsrechts als nächste Etappe
Das Projekt eines europäischen Wirtschaftsgesetzbuches wird von der Association Henri Capitant getragen und die ersten Ergebnisse sind laut Prof. Dr. Grégoire sehr ermutigend.
Prof. Dr. Grégoire wies in ihrem Vortrag dabei einen ersten großen Kritikpunkt an diesem Projekt zurück, nämlich die Unmöglichkeit, ein einheitliches Rechtssystem im Bereich des Wirtschaftsrechts zu schaffen. Denn es ist nicht möglich, durch eine vereinheitlichte Regelung die Bedürfnisse aller Mitgliedstaaten in Einklang bringen, geschweige denn eine Norm so auszugestalten, dass sie sich in jedes Rechtssystem einfügen könne. Dies zeige sich am Beispiel der société européenne simplifiée, welche bei den Juristen und Praktikern, wie Ministerialdirektorin im BMWK Dr. Kirsten Scholl später bestätigte, großen Zuspruch finde.
Dennoch steht das BMWiK dem Kompilationsaspekt der Arbeit kritisch gegenüber. So betonte Frau Dr. Kirsten Scholl, selbst ausgebildete Juristin, dass es nicht genüge, ein dogmatisch sauberes Regelungskonstrukt zu schaffen. Der Ausgangspunkt für die Gestaltung eines Wirtschaftsgesetzbuchs muss die Wirtschaft sein. Konkret ergab eine durch das BMJ organisierte Diskussionsrunde, dass Gewerkschaften sich sehr kritisch zu den Regeln zur Mitbestimmung geäußert haben und insbesondere Notare die Möglichkeit des Rechtsmisbrauches bei den Gesellschaftsformen mahnten. Das Projekt zeigt aber Potential und könnte, so Frau Dr. Kirsten Scholl, vielleicht auch Thema des nächsten deutsch-französischen Ministerrats sein.