Von Chiara Pelster, 16.05.2022
Große Unternehmen erhalten seit Jahren besondere mediale und staatliche Aufmerksamkeit. Sei es, um den nationalen und europäischen Ruf einer Branche zu erhalten, wie beispielsweise den der Automobilindustrie (VW in Deutschland oder die Groupe PSA in Frankreich), oder um Arbeitsplätze zu garantieren. Infolgedessen wurde sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene überwiegend ein Rechtsrahmen entwickelt, der sich großen Unternehmen widmet. Dies ist im Insolvenzrecht offentsichtlich, dessen Verfahren sich an den Bedürfnissen großer Unternehmen orientiert.
Dagegen sind KMU nicht nur zahlreich, sondern sowohl für das Wirtschaftswachstum, als auch für die Sicherung von Arbeitsplätzen unabdingbar. Allein 2015 machten rund 22,3 Millionen KMU in der Europäischen Union 99,8% aller nichtfinanziellen Unternehmen aus, beschäftigten rund 90 Millionen Menschen und erwirtschafteten ca. 58% der gesamten Wertschöpfung1. Auch wenn KMU im Durchschnitt nur vier Personen beschäftigen, haben sie in den letzten Jahren rund 85% der neuen Arbeitsplätze in der EU geschaffen und zwei Drittel der Beschäftigung im Privatsektor gesichert2. Schließlich beschäftigen sie die meisten Auszubildenden und sind so der größte Ausbilder in Europa. Infolgedessen besteht ein grundlegendes makroökonomisches Interesse daran, das europäische Wirtschaftsrecht den Bedürfnissen von KMU anzupassen.
Eine solche Gesetzgebungsreform sollte jedoch nicht national, sondern auf EU-Ebene kohärent ausgestaltet werden. Es ist durchaus denkbar, KMU betreffende Rechtsbereiche zu harmonisieren, ohne das nationale Zivilrecht anzutasten. Das Insolvenzrecht ist eines der Rechtsgebiete, an denen sich beispielsweise erkennen lässt, dass das EU-Recht unübersichtlich (I) und das nationale Recht inadäquat ist (II).
I. Fragmentierung und Lückenhaftigkeit des EU-Rechts für KMU
Derzeit erscheint das Wirtschaftsrecht in der EU unübersichtlich (A), insbesondere im Hinblick auf das Insolvenzrecht (B).
A. Eine Unübersichtliche Rechtslage….
Mangels Konsens zur Erneuerung der Verträge über die Funktionsweise der Europäischen Union, stagniert diese. Die Europäische Kommission bleibt in ihren Kompetenzen beschränkt, was zur Folge hat, dass nur einige Teilaspekte des Wirtschaftsrechts harmonisiert werden konnten, wie z. B. die Rechnungslegung oder das Registerrecht. Was die Tätigkeiten von Unternehmen im Binnenmarkt angeht, so widmen sich die von der Kommission erlassenen Richtlinien zum einen punktuellen Problemen und werden zum anderen von Mitgliedstaaten unterschiedlich umgesetzt3. Dies führt zu einer allgemeinen „Fragmentierung, Unübersichtlichkeit und Lückenhaftigkeit“ des EU-Rechts und für Kleinst-, Klein-, und Mittelunternehmen (KKMU) zu „Komplexität, Detailverliebtheit und Unzugänglichkeit des EU-Rechts4. Dies spiegelt sich insbesondere im Insolvenzrecht wider.
Allein schon im Hinblick auf das Vorinsolvenzrecht und den Richtlinienvorschlag über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU (RL-Vorschlag 2016/0359 (COD)) ist die Rechtslage in der EU nicht eindeutig. Der RL-Vorschlag 2016/0359 (COD) enthält zwar verbindliche Regelungen und Optionen5, welche einen vorinsolvenzlichen Restrukturierungsrahmen vorgeben, doch durch eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen, die nicht oder kaum konkretisiert werden, divergiert die Umsetzung im Rahmen des Ermessensspielraum der EU-Mitgliedstaaten6. Bereits in Frankreich, Deutschland und Italien verfolgt das Insolvenzrecht unterschiedliche Ziele.
B. … am Beispiel des deutschen, italienischen und französischen Insolvenzrechts
Das französische Insolvenzrecht zeichnet sich dadurch aus, dass es sehr arbeitnehmerfreundlich ist und am ehesten den Vorgaben der Richtlinie entspricht. Es ist im sechsten Buch des Code de Commerce in den Art. L.610-1 bis L.680-7 geregelt und enthält vier vorinsolvenzliche, präventive Verfahren: das Ad hoc-Mandat, das Schlichtungsverfahren (procédure de conciliation), das Sanierungsverfahren und das neue „beschleunigte Sanierungsverfahren“ (sauvegarde accélérée)7. Im deutschen Insolvenzrecht schlägt sich trotz jüngerer Reformen nieder, dass es ursprünglich als ein Gesamtvollstreckungsrecht im ausschließlichen Interesse der Gläubiger konzipiert wurde8. Angelehnt an die procédure de conciliation und die procédure de sauvegarde ist das Schutzschirmverfahren gem. §270b InsO. die deutsche Umsetzung der Richtlinie. Im Kern entspricht dieses den Vorgaben der Richtlinie, zählt jedoch zur ersten Phase eines ordentlichen Vorverfahrens, sodass, entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut der Richtlinie, kein eigenständiges vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren vorliegt. Dennoch gilt es als eines der effektivsten Verfahren in Europa9. Schließlich fällt das italienische Insolvenzrecht aufgrund seiner Vielzahl an Verfahrensmöglichkeiten, Komplexität und stärkeren Sanktionen für natürliche Personen auf10. In dem Gesetzbuch „Legge Fallimentare“ (L.F) werden eine Vielzahl vorinsolvenzlicher Verfahren vorgestellt, von denen das Concordato Preventivo am ehesten den Vorgaben der Kommission entspricht. Wie man sehen kann, ist es für den einfachen Unternehmer schwer ersichtlich, welche Rechtsvorschriften in seinem Fall heranzuziehen sind und noch weniger, welche Rechtsvorschriften zu vergleichen wären, sollte er transnational tätig werden. Für KKMU und KMU, die aufgrund ihrer Ressourcenarmut des Öfteren von keiner eigenen Rechtsabteilung verfügen, stellt dies eine wichtige Hürde dar. Spätestens mit dem Insolvenzschutzschirmverfahren (ESUG) in Deutschland und der Einführung des Concordato Preventivo con continuazione aziendale in Italien ist zumindest der Erhalt von Arbeitsplätzen in allen drei Ländern ein wichtiges Ziel einer Sanierung geworden, sodass zumindest auf dieser Ebene etwas Rechtssicherheit herrscht.
Abgesehen davon, dass die divergierende Rechtslage unübersichtlich ist, stellt sich noch ein viel größeres Problem: allen drei Rechtssystemen ist gemeinsam, dass die von ihnen angebotenen vorinsolvenzlichen Verfahren nicht auf KMU zugeschnitten sind. Die hohen Eingangsvoraussetzungen in Verbindung mit den fehlenden Frühwarnsystemen verwehren insbesondere kleinen und Kleinstunternehmen (KKMU) den Zugang zu einer frühzeitigen Sanierung. Dies wirkt sich auf das Wirtschaftswachstum im europäischen Binnenmarkt aus.
II. Ein unzureichender Rechtsrahmen für die wirtschaftlichen Bedürfnisse von KMU
Die aktuelle Diskrepanz untergräbt die Chancengleichheit zwischen europäischen Unternehmen, da nicht alle gleichermaßen Zugang zu einer frühzeitigen Sanierung erhalten (A). Wie wichtig jedoch eine frühzeitige Sanierung für das Wirtschaftswachstum ist, zeigte sich insbesondere in der Covid-19-Pandemie (B).
A. Konkurrenzverrung im EU-Binnenmarkt
Ein mangelndes einheitliches und effektives Insolvenzrecht für KMU untergräbt die Chancengleichheit und bremst die Unternehmensgründung. In der Tat ergab eine Studie der Kommission folgendes: hätten nur 50% der Eigentümer insolventer KMU eine neue Geschäftsidee verfolgt, so hätten von 2009 bis 2014 jedes Jahr zusätzlich 99 000 Unternehmen gegründet und auf dem europäischen Arbeitsmarkt zwischen 198.000 und 396.000 Arbeitsplätze geschaffen werden können11. Durch das sog. „Stigma des Scheiterns des Insolvenzverfahrens“ versuchen viele KMU, eine Insolvenz um jeden Preis hinauszuzögern. Dabei verfehlen sie eine echte Gelegenheit zur Rehabilitierung.
Der Zugang zu einer frühzeitigen Sanierung, kann ein effizientes Instrumentarium sein, um die Unternehmensschließung zu verhindern. Um die Chancengleichheit auf dem europäischen Markt zu gewähren, muss dieses aber auch jedem Unternehmen zustehen. Jedoch werden bei der jetzigen uneinheitlichen Rechtslage in Europa KMU, und insbesondere KKMU je nach Standort im Falle einer Unternehmenskrise und Insolvenz sehr unterschiedlich behandelt12. Das Fehlen eines Restrukturierungsrahmens oder unvorteilhafte Rehabilitations- und Entschuldungsoptionen in einigen EU-Mitgliedstaaten benachteiligen die KMU, die in einem solchen Mitgliedstaat niedergelassen sind. Große Unternehmen führen ein sog. „Forum shopping“ durch, indem sie ihren Sitz kurz vor einer Insolvenz in den EU-Mitgliedstaat verlegen, der ihnen den vorteilhaftesten Rechtsrahmen bietet. Dieses war lange das englische „Solvent Scheme of Arrangement“, welches nun nicht mehr über Artikel 36 Abs. 1 der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (EuGVVO) anwendbar ist13. KMU stand dieses Privilegium aufgrund ihrer Ressourcenarmut nie zu: sie können ihr Unternehmen nicht verlegen und sind diesem Nachteil folglich ausgesetzt14. Diese uneinheitliche Rechtslage ist nichts anderes als eine Konkurrenzverzerrung im europäischen Binnenmarkt.
B. Akuter Handlungsbedarf in Folge der Covid-19-Pandemie
Die Covid-19-Pandemie hat Rechtsunsicherheit geschürt und die Angst vorm Scheitern genährt. Das IfM Bonn verzeichnete im Jahr 2020 insgesamt rund 331.000 Existenzgründungen in Deutschland. Das sind rund 36.000 weniger als im Vorjahr (-9,7 %)15. Frankreich verzeichnete im ersten Halbjahr 2021 zunächst einen Anstieg der Unternehmensgründungen um 4 %, der auf eine Zunahme um 9 % bei der Registrierung von Einzelunternehmen im Rahmen des Mikrounternehmersystems zurückzuführen ist16. Im September 2021 ging die Gesamtzahl der Unternehmensgründungen aller Unternehmensarten jedoch zurück17.
Der sowohl in Deutschland als auch in Frankreich zu beobachtende Ansatz, KMU durch eine Aussetzung der Insolvenzanträge zu unterstützen, hat weder die Effizienz, noch den Ruf der Insolvenz gefördert. In der Tat wurde die Umgehung der Insolvenz medial mit der Rettung des Unternehmens verbunden. Dabei ist eine Insolvenz kein endgültiges Scheitern eines Unternehmens, sondern in erster Linie ein Instrumentarium, um das Unternehmen neu aufzustellen. Zwar hätte das Ausbleiben staatlicher Unterstützung dazu geführt, dass viele lebensfähige Unternehmen aufgrund einer kurzfristigen Zahlungsunfähigkeit verschwinden und somit eine Insolvenzflut herbeiführen. Doch entsteht durch das Aussetzen der Insolvenzantragspflicht das Risiko, zu viele sogenannte „Zombie-Unternehmen“ am Leben zu halten, also kleine und mittlere Geschäfte, Dienstleister, Selbstständige, die nach den normalen Marktbedingungen nicht mehr existieren würden. Diese Unternehmen häufen Schulden an, was wiederum die Zahlungsfähigkeit ihrer Gläubiger beeinträchtigen und damit die gesamte Marktwirtschaft schwächen kann18. Vor diesem Risiko hat auch der französische Senat gewarnt19.
Immerhin hat die Covid-19- Pandemie den KMU und dem Insolvenzrecht mediale Aufmerksamkeit auf EU-Ebene gegeben. Ob es sich dabei um ein „fenêtre d’opportunité“ handelt, um dieses Anliegen in die Agenda der EU aufzunehmen, bleibt abzuwarten. Das Geschehen der vergangenen zwei Jahre ist jedoch ein Beleg dafür, dass ohne Rechtssicherheit und wirtschaftliche Stabilität Unternehmen nicht überleben können, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, sich kontinuierlich rechtlich beraten zu lassen. Der Code européen des affaires könnte Rechtsklarheit schaffen.
1 Szczepanski, Das Wachstum europäischer KMU fördern, S.6.
2 Szczepanski, Das Wachstum europäischer KMU fördern, S.6.
3 Lehmann, Das Europäische Wirtschaftsgesetzbuch – Eine Projektskizze, in: GPR 2017, S.262- 269, S.262.
4 Lehmann, Das Europäische Wirtschaftsgesetzbuch – Eine Projektskizze, in: GPR 2017, S.262- 269, S.263.
5 Madaus, Eine zweite Chance für Unternehmer. Auswirkung des Richtlinienvorschlags auf KMUs und Kleinstunternehmer, 2017, S30.
6 Klupsch/Schulz, Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie zu präventiven Restrukturierungsrahmen, EuZW 2017, 85, S.89.
7 Niggemann, MünchKOM zur Insolvenzordnung, Länderberichte Frankreich Rn.5.
8 Paul/Rudow, Eigenverwaltung und Insolvenzplan bei KMUs, in: NZI 2016, S.385-392, S. 387.
9 Die unterschiedliche Weite des Begriffes Isnsovenzverfahren verzerrt den Vergleich der Wirksamkeit des deutschen und französischen Insolvenzrecht. Im deutschen Insolvenzrecht sind alle Verfahren Teil des ordentlichen Insolvenzverfahrens. So gelten in Deutschland auch Unternehmen dazu, die noch sehr gesund sind. In Frankreich hingegen werden nur die Unternehmen in das Insolvenzverfahren einbezogen, bei denen vorangegangene Maßnahmen gescheitert sind. Die Erfolgsquote ist daher verzerrt.
10 Valiante, Harmonising insolvency laws in the Euro Area: rationale, stock-taking and challenges. What role for the Eurogroup?, 2016, S.15.
11 Szczepanski, Das Wachstum europäischer KMU fördern, S.18.
12 Madaus, Eine zweite Chance für Unternehmer. Auswirkung des Richtlinienvorschlags auf KMUs und Kleinstunternehmer, 2017, S.29.
13 Englische Gesellschaften und Unternehmensinsolvenzen in der Post-Brexit-EU, in: NJW 2016, 2378-2383, S. 2378.
14 Madaus, Eine zweite Chance für Unternehmer. Auswirkung des Richtlinienvorschlags auf KMUs und Kleinstunternehmer, 2017, S.29.
15 https://www.ifm-bonn.org/statistiken/gruendungen-und-unternehmensschliessungen/existenzgruendungen-insgesamt, [zuletzt abgerufen am 3.12.2021].
16 Hugo Gourdon, Un nouvel record de créations d‘entreprises en 2020 malgré la crise sanitaire, 3.02.2021, https://www.insee.fr/fr/statistiques/5016913, [zuletzt abgerufen am 12.12.2021].
17 Baisse des créations d’entreprises en septembre 2021 ; forte hausse sur les 12 derniers mois, 15.10.2021, https://www.insee.fr/fr/statistiques/5542216, [zuletzt abgerufen am 18.12.2021].
18 Niering, Warum Zombiefirmen gefährlich sind, 19.08.2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/kritik-an-schonfrist-fuer-insolvenzen-warum-zombiefirmen-100.html, (zuletzt abgerufen am 6.12.2021)
19 Sénateurs François BONHOMME et Thani MOHAMED SOILIHI, RAPPORT D’INFORMATION fait au nom de la commission des lois constitutionnelles, de législation, du suffrage universel, du Règlement et d’administration générale (1) sur les outils juridiques de prévention et de traitement des difficultés des entreprises à l’aune de la crise de la covid-19, 19 mai 2021 http://www.senat.fr/rap/r20-615/r20-6151.pdf