von Chiara Pelster und Niklas Uder, 6. März 2022
„Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt“ bemerkte Robert Schuman 1950. Der Zusammenhang zwischen Krieg und europäischer Einigung gilt auch 70 Jahre später.
Sowohl die Finanzkrise als auch die Migrations- und Sicherheitskrise haben gezeigt, dass die Europäische Union (EU) weder mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet war, um effektiv zu handeln, noch allgemein ein Konsens darüber herrschte, welcher Rolle und Zukunftsaussichten sie sich stellen sollte. So flossen in Brüssel erhebliche Ressourcen in Streitigkeiten rund um das Dublin-Verfahren, in die Austrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich, in Fragen zur Rechtsstaatlichkeit, sowie in die träge vorangehende Debatte zur klimaneutralen Zukunft der EU. Immer lauter werdende EU-feindliche Parolen konservativer bis rechter nationaler Parteien begleiteten die Debatten. Doch genau diese EU, die in den letzten Jahren in einer technokratischen Blockade verharrte, wurde nun entgegen Putins Kalkül wiederbelebt.
Angesichts des Krieges in der Ukraine, an der unmittelbaren Grenze der EU, hat der Staatenverbund letzte Woche Handlungsfähigkeit an den Tag gelegt. Dies war notwendig, da der Krieg in dem EU-Nachbarland die EU in ihrer Existenz gefährdet. Deutlich wie selten zuvor stellte sich die Frage nach europäischer Souveränität. Die russische Aggression gefährdet die militärische Souveränität der EU, für deren Mitgliedstaaten eine gegenseitige Beistandspflicht nach Art. 42 Abs. 7 EUV gilt. Die Einschränkungen der Gasversorgung, insbesondere durch die Beerdigung von Nord Stream 2, lassen die mangelnde Souveränität der EU in Energiefragen offen zu Tage treten. Und schließlich tangiert die massive Einschränkung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland ihre ökonomische Souveränität.
Die Sanktionen gegen Russland markieren eine wichtige Kehrtwende in der europäischen Politik. Doch weitere Maßnahmen werden folgen müssen, damit die EU gegenüber geopolitischen Schwergewichten unabhängiger wird. Dazu gehört die Ausarbeitung eines einheitliches Europäisches Wirtschaftsgesetzbuches.
I. Eine Kehrtwende in der europäischen Politik
In den letzten Jahren hat die EU die Welt glauben lassen, dass varietat concordia ein Synonym für Schwäche und ineffiziente Regierung ist. Die ganze Welt schaute zu, wie gemeinsamer Handel und friedliche Konfliktlösungen nicht nur scheiterten, sondern auch von einigen als „erniedrigendes Diktat aus Brüssel“ beschrieben wurde. Parallel dazu verzeichneten autoritäre Regime entweder erhebliches wirtschaftliches Wachstum oder ließen zumindest einen sozialen Frieden für sich sprechen.
Die EU-Außenpolitik im Ukraine-Krieg markiert eine Zeitenwende. Dass zeigt ein Vergleich zur Handlungsfähigkeit Europas im Jugoslawien Krieg. Von der Leyens Wortwahl bei der EU-Parlaments Debatte am 26.02.2022, “Die Stunde der Wahrheit”, erinnern stark an die Aussage „Dies ist die Stunde Europas” des ehemaligen luxemburgischen EU-Außenministers Jacques Poos im Juni 1991. Trotz großer Worte fehlte es an einer entschlossenen Jugoslawien-Politik, wodurch die Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der ehemaligen Europäischen Gemeinschaft bedroht war1.
Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine lässt sich eine neue Entwicklung beobachten: Die EU steht nun nicht mehr für den Verlust nationaler Souveränität, sie steht nun für den Erhalt der territorialen Integrität der Staaten, die Aufrechterhaltung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. „Das Schicksal der Ukraine steht auf dem Spiel, aber es geht auch um unser eigenes Schicksal. Wir müssen die Kraft zeigen, die in unseren Demokratien steckt, d. h. die Macht der Menschen, die ihren unabhängigen Weg frei und demokratisch wählen,“ bekannte Ursula von der Leyen am 01.03.2022 im Europäischen Parlament. Binnen von nur drei Tagen nach dem Start der russischen Invasion konnten sich 27 Staaten auf das größte Sanktionspaket in der Geschichte der Union einigen. „Diese Sanktionen werden negative Auswirkungen auch auf uns haben. Aber wir sind bereit, diese negativen Auswirkungen zu tragen, denn sie sind der Preis der Freiheit“, urteilte Christian Lindner, FDP, in in der Bundestagsdebatte zur Ukraine Krise vom 27.02.2022. Dass ein solcher Konsens, anders als beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien, so selbstverständlich zustande kam, mag daran liegen, dass der Krieg in der Ukraine die Europäer an die Dominanz der Sowjetunion während und nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, eine Kultur und Geschichte, die die EU-Mitgliedstaaten teilen.
II. Zukunftsaussichten: das EuWGB als Beispiel für den Zugewinn von Souveränität
Die EU muss gegenüber geopolitischen Schwergewichten souveräner werden. Eine Weiterentwicklung der Funktionsfähigkeit der EU stünde, unabhängig ihres politischen Bedarfs, auch im Einklang mit ihrer juristischen Natur. Schließlich ist sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes „eine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art“2.
Zunächst muss die EU an struktureller Reaktions- und Handlungsfähigkeit zulegen. Bisher nimmt der Beobachter vor allem die Europäische Zentralbank (EZB), als effektive europäische Institution wahr, da sie eine föderale Struktur hat und völlig unabhängig von den nationalen Regierungen ist. So konnte die EZB beispielsweise im Zuge der Covid-19-Pandemie eine zielgerichtete Geldpolitik führen, indem sie Anleihekäufe im Rahmen des PEPP flexibilisierte und den Marktteilnehmern signalisierte, dass sie zielgerichtet und bedarfsgerecht Wertpapiere kaufen kann. Dadurch scheint sie der steigenden Fragmentierung auf den Staatsanleihemärkten erfolgreich entgegengewirkt zu haben, was wiederum die Risiken für eine Finanzmarktkrise eingedämmt hat3.
Für mehr politische Handlungsfähigkeit könnte eine Reform des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) von Nöten sein. In diesem Zusammenhang spielt die Ausweitung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU eine wichtige Rolle. Das Konzept der europäischen Verteidigungsidentität wurde zuletzt von Frankreichs Präsident Macron in seiner Rede vor der Sorbonne 20174 und vor dem Europäischen Parlament Anfang 20225 aufgegriffen, war aber auch Thema während den Verhandlungen zu den Maastrichter Verträgen im Hinblick auf dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien6. Kernproblem bei dieser Frage ist die Befürchtung, in eine noch größere Technokratie zu verfallen. In der Tat leidet die EU unter einem Demokratiedefizit, da das EU-Parlament die einzige durch Wahlen legitimierte Institution ist. Institutionen wie beispielsweise die EU-Kommission oder die Spitze der europäischen Exekutive werden nach dem Prinzip der Bestenauslese besetzt.
Neben der politischen Neufindung der EU, gehört das Vorantreiben der wirtschaftlichen und finanziellen Integration zu den benötigten Änderungen. Es müssen Mechanismen ausgebaut werden, welche die EU als Wirtschafts- und Währungsunion funktionsfähiger machen. Dazu gehört die Schaffung eines einheitlichen Europäischen Wirtschaftsgesetzbuches.
Das EuWGB ist ein ambitioniertes Projekt mit dem Ziel, das detaillierte, lückenhafte und frakturierte EU-Recht in einem Gesetzbuch zu kodifizieren. Mit einer klaren und einheitlichen legislatorischen Linie ließen sich mühsame und ressourcenaufwendige Rechtsvergleiche bei grenzüberschreitendem Handel vermeiden. Ein einheitlicher und transparenter Rechtsrahmen schafft Rechtssicherheit und fördert die Gründung neuer Unternehmen. Diese brauchen wir in Europa, wenn wir unsere grundlegenden Bedürfnisse weitestgehend autonom und flächendeckend befriedigen wollen. Neu durch das EuWGB eingeführte Regelungen, wie die Schaffung einer neuen Gesellschaftsform S.E.S., würden dem europäischen Markt nach Ende der globalen Pandemie und dem Ukrainekrieg neuen Elan geben.
Getreu dem Motto „Friede durch Handel“ würde das EuWGB dazu beitragen, die wirtschaftliche Souveränität der EU zu stärken.
Schließlich soll betont werden, dass die Diskussion von Gesetzesvorhaben wie dem des EuWGB nur dank Meinungs- und Versammlungsfreiheit auf europäischem Territorium möglich ist. Auf dem „marketplace of ideas“ soll die Idee in Recht gegossen werden, für die die besten Argumente sprechen. Die aktuellen Geschehnisse in Russland zeigen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Trotz unterdrückter Opposition, und dem Risiko einer Verhaftung gehen Russen und Russinnen auf die Straße, um sich gegen den Kurs ihrer Regierung auszusprechen. Solidarität gilt dem Teil des russischen Volkes, das Mut beweist und seine Souveränität zurückverlangt. Denn alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
1 Maull/Stahl, Durch den Balkan nach Europa? Deutschland und Frankreich in den Jugoslawienkrieg, S.90.
2 BVerfGE 22, 293 (296).
3 Dany-Knedlik, Die EZB in der Corona-Krise: Flexibilität, DIW Wochenbericht 24 / 2020, S. 452, [https://www.diw.de/de/diw_01.c.791598.de/publikationen/wochenberichte/2020_24_6/die_ezb_in_der_corona-krise__flexibilitaet_wirkt__kommentar.html]
4 « En matière de défense, l’Europe doit se doter d’une force commune d’intervention, d’un budget de défense commun et d’une doctrine commune pour agir. Il convient d’encourager la mise en place au plus vite du Fonds européen de défense, de la coopération structurée permanente et de les compléter par une initiative européenne d’intervention qui permette de mieux intégrer nos forces armées à toutes les étapes » Initiative pour l’Europe – Discours d’Emmanuel Macron pour une Europe souveraine, unie, démocratique., Paris, 26 sept. 2017.
5 « En matière de défense, enfin, nous ne pouvons pas nous satisfaire d‘être en réaction aux crises internationales. Il nous faut une puissance d‘anticipation qui organise la sécurité de notre environnement », Strasbourg, 19 janv. 2022.
6 Maull/Stahl, Durch den Balkan nach Europa? Deutschland und Frankreich in den Jugoslawienkrieg, S.87