Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung hat Dr. Antje Luke um eine Stellungnahme zu dem Projektentwurf der Association Henri Capitant zur Vereinfachten Europäischen Aktiengesellschaft gebeten. Wir haben mit Dr. Luke über den praktischen Nutzen des Projektes gesprochen.
Niklas Uder für www.europaischeswirtschaftsgesetzbuch.eu, 14.11.2021
Frau Dr. Luke, Sie beraten seit zwanzig Jahren deutsche und französische Unternehmen bei Rechtsgeschäften im Nachbarland. Besteht in der Praxis überhaupt ein Bedarf für das Projekt EuWGB?
Die Vielzahl der nationalen Rechtssysteme ist in der Tat ein Hindernis für die Entwicklung von Unternehmen, insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen, die außerhalb ihres nationalen Territoriums expandieren wollen. Andererseits sind die Unternehmen an diese Unterschiede gewohnt, so dass man sich fragen kann, ob sie ein (weiteres) neues Recht überhaupt annehmen würden.
Sie empfehlen in ihrer Stellungnahme, dass im Rahmen der neuen Kodifizierung ein Vorbehalt hinsichtlich des Zugangs zum Recht gemacht wird. Welche Probleme stellen sich in der Praxis?
Wenn das Ziel unserer Arbeit der Zugang zum Recht ist, kann die Kodifizierung als Kompilation von Bestimmungen sicherlich dazu beitragen.
Selbst wenn ein Unternehmen über einen solchen Kodex auf die es betreffenden Bestimmungen zugreifen kann, können die Bestimmungen schwer zu lesen sein. Einige europäische Richtlinien oder Verordnungen sowie einige nationale Texte zeichnen sich durch ihre Länge aus, was sie schwer lesbar macht.
Sehr nützliche Erklärungen oder Zusammenfassungen finden sich sowohl auf den Webseiten der Europäischen Union (z. B. EUR-Lex) als auch auf denjenigen der Regierungen, Berufsverbänden oder Handelskammern. Diese Texte verweisen auf entsprechende Bestimmungen.
In der Praxis sind die Schwierigkeiten der Unternehmen manchmal auch das Ergebnis einer mangelnden Schulung, z. B. der Verkaufsteams, um die Punkte zu kennen, die bei einem internationalen Vertrag zu beachten sind. Meiner Meinung nach kann der Zugang zum Recht auch durch eine Stärkung des Zugangs zu diesen Informationen deutlich verbessert werden.
Der Zugang zum Recht kann insofern durch derartige Initiativen und Schulungen verbessert werden.
Es wurde in der Vergangenheit ein Opt-in Regime für das Europäische Wirtschaftsgesetzbuch vorgeschlagen. Wie bewerten Sie diesen Ansatz?
Eine solche Kodifizierung mit Änderungen würde zu einer größeren Harmonisierung beitragen. Der Vorschlag, bestimmte Musterverträge oder ein „Opt-in Regime“ zu schaffen, würde jedoch nicht mit Sicherheit eine Lösung der Probleme mit sich bringen. Diese Musterverträge könnten nur teilweise vom nationalen Recht abgekoppelt sein. Hierbei lässt sich auf Verträge verweisen, auf die das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf (CISG) Anwendung findet. Da sein Anwendungsbereich auf bestimmte Aspekte des Kaufrechts beschränkt ist, muss das betreffende Unternehmen stets das Recht bestimmen, das auf andere vertragliche Aspekte anwendbar ist, die nicht durch dieses Übereinkommen geregelt werden.
Es sollte auch berücksichtigt werden, dass die Eröffnung neuer Optionen den Zugang zum Recht für Unternehmen weiter erschweren kann. Sie hätten potenziell die Wahl zwischen mehreren nationalen Gesetzen und zusätzlich einer optionalen Rechtsordnung, was den Beratungsbedarf, noch zumindest bevor diese bekannter werden, erhöhen würde.
Lassen Sie uns zum Ende noch auf den Vorschlag der Vereinfachten Europäischen Gesellschaft (S.E.S.) eingehen. In Deutschland lagen die Vereinheitlichungsambitionen nach dem Scheitern der Projekte der Europäischen Privatgesellschaft (EPG) und der Societas Unius Personae (SUP) am Boden. Nun mehren sich Stimmen, die die S.E.S. als geeignetes rechtliches Instrument für KMUs fordern. Welche praktischen Probleme bestehen für KMUs beim Tätigwerden auf dem Europäischen Binnenmarkt?
In verschiedenen Rechtsgebieten wie zB dem Arbeitsrecht gibt es nach wie vor – trotz Harmonisierung von vereinzelten Themen – bestimmte Unterschiede, die Hürden bilden oder zumindest einen erhöhten Beratungsbedarf schaffen.
Gerade das Gesellschaftsrecht der nicht börsennotierten Gesellschaften ist trotz der Harmonisierung noch unterschiedlich. In Deutschland ist zB die Unterzeichnung der notariellen Urkunde für eine Gesellschaftsgründung oder den Kauf von GmbH-Anteilen auch für Firmengründer mit einem gewissen Aufwand verbunden, der allerdings mit Vollmachten organisiert werden kann. Notarielle Fernsignaturlösungen sollten langfristig verfügbar sein.
Gleichzeitig haben sich die Mitgliedstaaten im Wettbewerb um Investoren bemüht, zumindest eine flexible Gesellschaftsform zu schaffen, wie zB in Frankreich die vereinfachte Aktiengesellschaft, die SAS, und diese über die Jahre zusehend vereinfacht.
Vorteil einer gemeinsamen Rechtform könnte sein, Konzernen mit mehreren Tochtergesellschaften in Europa für alle ihre Tochtergesellschaften dieselbe Gesellschaftsform mit demselben grundlegenden Gesellschaftsmodell zu Verfügung zu stellen, wobei sich die Unterschiede zwischen den nationalen Gesetzen auf die Punkte beschränken würden, die nach dem Entwurf noch in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. In der Tat bitten uns Mandanten manchmal, ihre Modellsatzung (z.B. von einer GmbH) an eine SAS anzupassen, was eine komplexe Aufgabe sein kann.
Die betriebliche Mitbestimmung bei der Societas Europaea (SE) ist in umfassenden Regelungskatalogen festgelegt. Gewerkschaften kritisieren jedoch das Schutzniveau der Mitbestimmung bei der SE. Wird sich auch die S.E.S. dieser Kritik stellen müssen?
Nach Artikel 1.1.2 des Vorschlags zur Schaffung der S.E.S sollen die Bestimmungen über die Arbeitnehmermitbestimmung durch das Recht der Referenz-Gesellschaftsform des eingetragenen Sitzes und gegebenenfalls des tatsächlichen Sitzes geregelt werden. Auf diese Weise wird jeder Mitgliedstaat in der Lage sein, seine diesbezüglichen Bestimmungen weiterhin anzuwenden, wodurch der sehr komplexe Mechanismus der SE vermieden wird. Insbesondere wenn Mitgliedstaaten diese Bestimmung auch auf den tatsächlichen Sitz anwenden können, kann vermieden werden, dass eine S.E.S. in einem anderen Mitgliedstaat nur mit dem Ziel der Umgehung der Mitbestimmung gegründet wird.
Frau Dr. Luke, wir bedanken uns für das Gespräch.
Dr. Antje Luke ist Rechtsanwältin und Avocat à la Cour bei Berg & Moll Rechtsanwälte. Dr. Luke berät Unternehmen im Gesellschaftsrecht, bei grenzüberschreitenden Mergers&Acquisitions, bei Unternehmensumstrukturierungen und Joint Ventures. Sie begleitet ihre Mandanten, französische, deutsche und internationale Unternehmen, Banken, Investmentfonds und Investoren, in allen Fragen des Handelsrechts, der Vertragsgestaltung und -verhandlung sowie in Compliance-Fragen.
Dr. Luke ist Vorsitzende des DeutschenAnwaltsverein (DAV) Frankreich, Mitglied der Sektion Internationales Wirtschaftsrecht und der Kommission Gesellschaftsrecht der Avocats Conseils d’Entreprises (ACE) sowie Mitglied des Rechtsausschusses der Deutsch-Französische Industrie- und Handelskammer (AHK).
Lesen Sie hier die Stellungnahme von Dr. Luke auf der Webseite des Deutschen Bundestages: https://www.bundestag.de