In ihrer Bewerbungsrede fordert die neue Präsidentin der Europäischen Commission die Stärkung kleiner und mittelständischer Unternehmen, die das Rückgrat der Volkswirtschaften bilden. Hindernisse beim Zugang zu Finanzierungen auf dem Binnenmarkt sollen überwunden werden und die Kapitalmarktunion nun vollendet werden. Ursula von der Leyen: „Das sind wir unseren kleinen und mittelständischen Unternehmen schuldig.“
Ebenso sind wir den KMU schuldig, wirtschaftsrechtliche Hürden abzubauen, denen die Unternehmen gegenwärtig ausgesetzt sind.
Lesen Sie unten die Rede von Ursula von der Leyen zur Eröffnung der Plenartagung des Europäischen Parlaments vom 16. Juli 2019 im Volltext.
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Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten,
vor genau 40 Jahren wurde Simone Veil zur ersten Präsidentin des Europäischen Parlaments gewählt und stellte ihre Vision von einem stärker geeinten und gerechteren Europa vor.
Wäre sie – und wären die anderen Pioniere Europas nicht gewesen, stünde ich heute nicht hier vor Ihnen.
40 Jahre später verkünde ich voller Stolz: Endlich steht eine Frau zur Wahl, um Präsidentin der Europäischen Kommission zu werden.
Das verdanke ich all denjenigen, die sich über Gewohnheiten und Konventionen hinwegsetzten. All denen, die ein friedliches Europa, ein geeintes Europa, ein Europa der Werte geschaffen haben.
Dieser Glaube an Europa hat mich mein ganzes Leben geleitet – als Mutter, als Ärztin und als Politikerin.
Der Mut und die Entschlossenheit von Pionierinnen wie Simone Veil bilden das Herzstück meiner Vision von Europa.
In diesem Geiste möchte ich auch die Europäische Kommission als Präsidentin führen.
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Herr Präsident,
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
Die Gründungsväter und -mütter Europas haben, aus den Trümmern und der Asche der Weltkriege, ein gewaltiges Werk errichtet.
Ein starker gemeinsamer Markt, grenzenloser Handel, Reisen, Forschen und Arbeiten. 500 Millionen Europäerinnen und Europäer leben heute zwischen Riga und Limassol, zwischen Athen und Lissabon in Wohlstand und Freiheit.
Die Generation meiner Kinder kann sich ein Leben ohne dieses Heimatgefühl Europa nicht vorstellen. Als diese glückliche Generation geboren wurde, dachten auch wir Älteren, dass es immer so weiterginge.
Heute ist auch den Letzten klar, dass wir wieder kämpfen müssen und aufstehen müssen für unser Europa. Die ganze Welt ist herausgefordert, mit disruptiven Entwicklungen umzugehen, die auch an Europa nicht vorbeigehen.
Der demografische Wandel, die Globalisierung der Weltwirtschaft, die rasante Digitalisierung unserer Arbeitswelt und natürlich der Klimawandel. Keine dieser Meta-Entwicklungen ist neu, sie wurden von der Wissenschaft lange vorausgesagt. Das Neue ist, dass wir heute als Bürgerinnen und Bürger Europas – egal, in welchem Land wir wohnen – die Auswirkungen konkret erleben und spüren.
Ob es die finnischen Weizenbauern, die durch die Dürre betroffen sind oder ob es die tödliche Hitzewelle in Frankreich ist: Wir spüren den Klimawandel ganz konkret. Ob es die Rentnerin in Irland ist, die mit Online-Banking klarkommen muss, oder der Arbeiter in Polen, der sich nach 20 Jahren im Job weiterbilden muss, um seine Arbeit überhaupt zu behalten: Wir spüren die Digitalisierung konkret. Ob es Regionen in Europa sind, in denen Schulen, Krankenhäuser oder Betriebe schließen müssen: Wir spüren den demografischen Wandel konkret.
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All das hat bei den Menschen ein Gefühl der Ohnmacht hinterlassen. Ein Gefühl von bröckelndem Zusammenhalt. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen. Die Reaktionen auf diese Entwicklungen fielen unterschiedlich aus: Einige setzen auf autoritäre Systeme, andere bauen ihren globalen Einfluss aus, schaffen Abhängigkeiten, investieren in Häfen und Handelswege. Wieder andere suchen ihr Heil im Protektionismus.
Für uns kommt keine dieser Optionen infrage. Wir wollen Multilateralismus, wir wollen fairen Handel, wir stehen für eine regelbasierte Ordnung, weil wir wissen, dass es für uns alle das Beste ist. Wir gehen den europäischen Weg. Als Europäerinnen und Europäer müssen wir aber geschlossen auftreten. Denn nur, wenn wir untereinander eins sind, kann niemand einen Keil zwischen uns treiben.
Nur wenn wir die Kluft zwischen uns überwinden, können wir die Herausforderungen von heute in die Erfolge von morgen ummünzen.
Eine Union, die mehr erreichen will
Unsere dringendste Aufgabe ist es, die Erde für die künftigen Generationen zu bewahren. Hierfür tragen wir alle Verantwortung. Ich möchte, dass Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent wird. Das geht aber nur, wenn alle an einem Strang ziehen. Unser gegenwärtiges Ziel von 40 % weniger Emissionen bis 2030 ist nicht ausreichend.
Wir müssen ehrgeiziger sein. Und wir müssen über uns hinauswachsen. In zwei Schritten möchte ich die CO2-Emissionen bis 2030 um 50 % senken, möglichst sogar um 55 %. Die EU wird bei den internationalen Verhandlungen eine Vorreiterrolle einnehmen, um andere große Volkswirtschaften dazu zu bewegen, bis 2021 mehr Einsatz zu zeigen. Um wirklich etwas zu erreichen, genügt es nicht, dass wir selbst ehrgeizig sind. Das ist das Mindeste. Darüber hinaus müssen wir aber weltweit umdenken.
Deshalb werde ich in den ersten 100 Tagen meiner Amtszeit einen „Green Deal für Europa“, eine ökologische Wende unserer Gesellschaft, vorschlagen.Gleichzeitig werde ich das erste Europäische Klimaschutzgesetz überhaupt einbringen, das die Ziele für 2050 in Recht gießt.
Hochgesteckte Ziele erfordern natürlich entsprechende Investitionen. Öffentliche Gelder werden nicht ausreichen. Deshalb werde ich einen Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa vorschlagen und Teile der Europäischen Investitionsbank in eine Klimaschutzbankumwidmen. Dies dürfte in den nächsten zehn Jahren Investitionen in Höhe von 1 Billion € bewirken.
Das bedeutet Veränderung. Jeder von uns, auch jeder Industriezweig wird seinen Beitrag leisten müssen, von der Luftfahrt über den Seeverkehr bis hin zu jedem von uns, wenn wir die verschiedenen Verkehrsmittel benutzen. Nur wenn Emissionen ihren Preis haben, wird sich unser Verhalten ändern. Um diese Arbeit zu ergänzen und sicherzustellen, dass unsere Unternehmen zu gleichen Bedingungen miteinander konkurrieren können, werde ich eine CO2-Grenzsteuereinführen, um die Verlagerung von CO2-Emissionen zu vermeiden.
Was unserem Planeten guttut, muss aber auch den Menschen in Europa und unseren Regionen guttun. Selbstverständlich bin ich mir der Bedeutung der Kohäsionsfonds bewusst. Aber wir brauchen mehr. Wir brauchen einen fairen Wandel für alle. Unsere Regionen mögen unterschiedliche Startbedingungen haben – das Ziel ist aber für alle gleich. Deshalb werde ich für die am stärksten vom Wandel betroffenen Regionen einen Fonds für einen fairen Übergang vorschlagen.
Das ist der europäische Weg: Wir sind ehrgeizig. Wir lassen keinen im Regen stehen. Und wir zeigen Perspektiven auf. Unsere hochgesteckten Ziele erreichen wir nur mit einer starken Wirtschaft.Das, was wir ausgeben wollen, müssen wir nämlich zunächst erwirtschaften.
Deshalb müssen wir das Rückgrat unserer Volkswirtschaften stärken: die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Sie sind innovativ, zeugen von Unternehmergeist, sind flexibel und anpassungsbereit, sie schaffen Arbeitsplätze und verhelfen unserer Jugend zu Ausbildungsplätzen. Das können sie aber nur, wenn ihnen dieser riesige Binnenmarkt Zugang zu Finanzierungen gewährt. Ich würde all diese Hindernisse gern überwinden. Machen wir den Weg frei! Vollenden wir endlich die Kapitalmarktunion! Das sind wir unseren kleinen und mittelständischen Unternehmen schuldig.
Das alles muss natürlich im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts geschehen. Wo Investitionen und Reformen notwendig sind, sollten wir auch zusehen, dass sie möglich sind. Hierzu sollten wir die im Pakt vorgesehene Flexibilität in vollem Umfang nutzen.
Wir sind stolz auf unsere Wirtschaft. Deshalb wollen wir, dass sie noch stärker wird.Wir müssen aber einer ebenso klaren wie simplen Logik folgen:Die Menschen dienen nicht der Wirtschaft.Vielmehr dient die Wirtschaft den Menschen. In unserer sozialen Marktwirtschaft müssen wir den Markt mit dem Sozialen in Einklang bringen. Deshalb werde ich das Europäische Semester an unseren Zielen für nachhaltige Entwicklung neu ausrichten.
Ich werde auch für Steuergerechtigkeit eintreten. Das gilt für die herkömmliche Industrie genauso wie für digitale Unternehmen. Wenn die Technologieriesen in Europa kräftige Gewinne erzielen, so ist das in Ordnung, weil wir ein offener Markt sind und uns zum Wettbewerb bekennen. Allerdings wären diese Gewinne ohne unser Ausbildungssystem, ohne unsere Fachkräfte, ohne unsere Infrastruktur und ohne unser Sozialversicherungssystem nicht möglich. Deshalb können wir nicht hinnehmen, dass sie unser Steuersystem ausreizen und bei reichem Gewinn kaum Steuern zahlen. Wer die Vorteile genießen will, muss auch einen Teil der Last tragen.
Europas Potenzial bestmöglich nutzen
Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten,
Auf dem europäischen Weg geht es auch darum, unser Potenzial bestmöglich zu nutzen: die Talente unserer Menschen, unsere Kompetenzen, unsere Vielfalt. Es geht darum, zu einer Union zu gelangen, die von mehr Fairness und mehr Gleichheit geprägt ist. Dafür werde ich jeden einzelnen Tag im Amt kämpfen – wie bisher auch.
Es hat sich viel getan, seit ich als Familienministerin für Elterngeld und Krippenplätze kämpfen musste. Aber der lange Weg zu mehr Gerechtigkeit ist nie zu Ende. Für viele hart arbeitende Familien in Europa ist es immer noch zu schwer, finanziell über die Runden zu kommen.
Ich möchte, dass Arbeit sich wieder lohnt. In einer sozialen Marktwirtschaft sollte jeder Mensch, der Vollzeit arbeitet, einen Mindestlohn erhalten, der ihm einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht.Deshalb werden wir einen Rahmen entwickeln, der natürlich den verschiedenen Arbeitsmärkten Rechnung trägt. Die beste Option ist meiner Ansicht nach, dass Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sich in Tarifverhandlungen verständigen, denn so wird der Mindestlohn dem entsprechenden Sektor oder der Region angepasst. Für die verschiedenen möglichen Modelle müssen wir jedoch den Rahmen vorgeben. Ich möchte auch, dass diejenigen, die ihre Arbeit infolge einer schweren Wirtschaftskrise verlieren, besser geschützt werden. Bei Wirtschaftsflauten, auf die wir keinen Einfluss haben, kann eine EU-weite Arbeitslosenrückversicherung unseren Volkswirtschaften und den Menschen in Europa als Stütze dienen. Auch wenn Arbeitslosenversicherungen in den Mitgliedstaaten bestehen, brauchen wir bei solchen schweren Erschütterungen ein Rückversicherungssystem in Europa.
Ich möchte auch, dass es für unsere jungen Menschen fairer und gerechter zugeht: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 14,2 % im EU-Durchschnitt, wobei der Wert je nach Land von 5 bis 40 % schwankt. Das können wir nicht einfach so hinnehmen. Junge Menschen haben Pläne und Ziele, sie wollen Arbeit und eine Zukunft – und es ist unsere Aufgabe, ihnen dazu zu verhelfen. Deshalb möchte ich dafür sorgen, dass die Jugendgarantie, die ich bereits als Arbeitsministerin im Rat angestoßen habe, in jedem Mitgliedstaat bestmöglich funktioniert. Ich unterstütze auch den Vorschlag des Europäischen Parlaments, die Mittel für Erasmus+ im nächsten langfristigen Haushalt zu verdreifachen.
Wir müssen den Schutzbedürftigsten zur Seite stehen: unseren Kindern. Wir müssen etwas gegen die Armut tun. Als Mutter von sieben Kindern weiß ich, wie groß der Nutzen für Kinder ein Leben lang ist, wenn ihnen Bildung, Sport, Musik, gesundes Essen und ein liebevolles Umfeld offenstehen.Wir brauchen ebenfalls eine Europäische Kindergarantie, damit jedes Kind in Europa, das von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht ist, Zugang zu den grundlegendsten Leistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung hat. Es zahlt sich morgen aus, wenn wir heute den jungen Menschen zu mehr Eigenständigkeit verhelfen. Das ist mein Aktionsplan für unsere Säule sozialer Rechte.
Ich werde mit gutem Beispiel vorangehen: Ich werde darauf achten, dass mein Kollegium zu gleichen Teilen mit Männern und Frauen besetzt ist. Wenn die Mitgliedstaaten nicht genügend Frauen vorschlagen, werde ich nach weiteren Namen fragen. Seit 1958 hatten wir insgesamt 183 Kommissionsmitglieder. Nur 35 davon waren Frauen. Das sind weniger als 20 %. Wir machen aber die Hälfte unserer Bevölkerung aus. Wir wollen unseren gerechten Anteil. Wir müssen auch offen über Gewalt gegen Frauen sprechen. Wenn in der Europäischen Union jeder fünften Frau körperliche oder sexuelle Gewalt angetan wird, und 55 % der Frauen sexuell belästigt werden, dann geht das nicht nur Frauen etwas an. Ich werde vorschlagen, Gewalt gegen Frauen in das im Vertrag festgelegte EU-Straftatenverzeichnis aufzunehmen.DieEuropäische Union sollte in jedem Fall dem Übereinkommen von Istanbul beitreten.
Eines kann ich mit Sicherheit sagen: Wenn wir es schaffen, die Gräben zu überwinden, gehen wir als Union gestärkt aus diesem Prozess hervor.
Europäische Werte verteidigen
Verehrte Abgeordnete,
Unsere europäische Zivilisation beruht auf der griechischen Philosophie und auf dem römischen Recht. Das dunkelste Kapitel unseres europäischen Kontinents durchlebten wir, als Diktatoren über uns herrschten und die Rechtsstaatlichkeit ausgehebelt war. Jahrhundertelang kämpften Europäerinnen und Europäer erbittert um ihre Freiheit und Unabhängigkeit.
Rechtsstaatlichkeit ist unser bestes Mittel, diese Freiheit zu verteidigen und den Schutzbedürftigsten in unserer Union auch tatsächlich Schutz zu gewähren. Aus diesem Grund dürfen bei der Achtung der Rechtsstaatlichkeit keine Kompromisse eingegangen werden, jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Ich werde dafür sorgen, dass wir auf europäischer Ebene alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen.
Zudem spreche ich mich klar und deutlich für einen EU-weiten Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit aus.Und eines steht fest: Das neue Instrument ist keine Alternative zu den bestehenden, sondern eine Ergänzung. Die Kommission wird immer unabhängige Hüterin der Verträge sein. Justitia verteidigt das Recht blind, gegen jeglichen Angriff.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete,
Die Rechtsstaatlichkeit gilt uneingeschränkt, sie gilt für alle. In den letzten fünf Jahren sind über 17 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken, das mittlerweile mehr Todesopfer fordert als jede Grenze der Welt.Auf See besteht die Pflicht, Leben zu retten, und in unseren Verträgen und Übereinkünften ist die gesetzliche und moralische Verpflichtung festgeschrieben, die Würde eines jeden Menschen zu achten.
Die Europäische Union kann und muss diese Werte verteidigen. Die Europäische Union braucht Grenzen, an denen Menschlichkeit herrscht. Wir müssen Leben retten, aber das allein ist nicht genug. Wir müssen außerdem die irreguläre Migration eindämmen, gegen Schlepper und Schleuser vorgehen − wir sprechen hier schließlich von organisiertem Verbrechen − und gleichzeitig das Recht auf Asyl wahren und die Lage derFlüchtlinge verbessern, etwa in Form humanitärer Korridore in enger Zusammenarbeit mit dem UNHCR. Wir müssen sowohl mit Mitgefühlals auch mit Entschlossenheit handeln.
Mir ist bewusst wie schwierig dieses Thema ist, und wie sehr die Meinungen auseinandergehen.Für uns gilt es, auf die weitverbreiteten, berechtigten Bedenken einzugehen und herauszufinden, wie wir unsere Differenzen überwinden können.Ich werde einen neuen Migrations- und Asylpakt vorlegen, in dessen Rahmen die Dublin-Reform neu aufgerollt werden soll.
So können wir zu einem Schengen-Raum der Freizügigkeit ohne Einschränkungen zurückkehren, der treibenden Kraft für Wohlstand, Sicherheit und Grundfreiheiten. In diesem Zusammenhang ist insbesondere ein Ausbau der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache erforderlich. Nicht erst 2027, sondern bis spätestens 2024 brauchen wir für Frontex eine ständige Reserve von 10 000 Grenzschutzbeamten.
Unser Asylsystem bedarf einer Modernisierung. Ein gemeinsames europäisches Asylsystem muss uns tatsächlichgemeinsam sein. Unsere Außengrenzen sind nur dann stabil, wenn wir den Mitgliedstaaten, die aufgrund ihrer geografischen Lage dem größten Druck ausgesetzt sind, genügend Unterstützung bieten.
Was wir brauchen, ist Solidarität. Wir alle müssen einander helfen und einen Beitrag leisten. Die Belastung muss neu verteilt werden. Und wir müssen faire Angebote im Interesse beider Seiten für eine Zusammenarbeit mit den Ursprungs- und Transitländern machen. Diplomatie, wirtschaftliche Entwicklung, Investition, Stabilität und Sicherheit sind nötig, damit die Menschen eine Perspektive haben.
Zu Perspektive habe ich eine Geschichte zu erzählen.
Vor vier Jahren konnte ich einen 19-jährigen Flüchtling aus Syrien bei uns Zuhause aufnehmen. Er sprach kein Deutsch, und die Erfahrungen im Bürgerkrieg und auf der Flucht hatten ihn tief gezeichnet. Heute, vier Jahre später, spricht er Deutsch, Englisch und Arabisch fließend. Er absolviert tagsüber gewissenhaft seine Ausbildung und erwirbt in der Abendschule einen weiteren Abschluss.Er ist uns allen eine Inspiration. Eines Tages will er in seine Heimat zurückkehren…
Eine verantwortungsvolle Vorreiterrolle auf der Weltbühne
Verehrte Abgeordnete,
als Verteidigungsministerin war ich oft in dieser vom Krieg zerrütteten Region. Ich werde nie die Worte des ehemaligen irakischen Staatspräsidenten Masum vergessen: Wir wollen hier mehr von Europa sehen.
Die Welt fordert mehr Europa. Die Welt braucht mehr Europa. Ich bin der Ansicht, dass Europa auf der Weltbühne entschlossener und mit einer Stimme sprechen sollte – außerdem ist schnelles Handeln nötig. Wir müssen daher den Mut aufbringen, außenpolitische Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zu treffen. Wir alle müssen dann auch vereint dazu stehen.
Die NATO wird auch in Zukunft Eckpfeiler der gemeinsamen Verteidigung sein. Wir bleiben transatlantisch und müssen gleichzeitig europäischer werden. Deshalb haben wir die Europäische Verteidigungsunion geschaffen.Unsere Arbeit an unserer Europäischen Union der Sicherheit und Verteidigung fügt sich in das Gesamtbild umfassender Sicherheit ein. Stabilisierung geht immer mit Diplomatie, Aussöhnung und Wiederaufbau Hand in Hand.
Unsere Soldatinnen und Soldaten ziehen mit Polizei, Diplomatie und Entwicklungshilfe an einem Strang. Diesen Männern und Frauengebührt unser größter Respekt, und höchste Anerkennung für ihren unermüdlichen Dienst für Europa.
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Ich kann nicht von Europa sprechen, ohne auch auf unsere Freunde imVereinigten Königreich einzugehen. 2016 hat zum ersten Mal ein Mitgliedstaat beschlossen, die Europäische Union zu verlassen. Das ist eine schwerwiegende Entscheidung. Wir bedauern sie, doch wir respektieren sie. Seitdem arbeitet die Europäische Union zusammen mit der derzeitigen Regierung des Vereinigten Königreichs hart daran, den geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs zu bewerkstelligen.
Das Austrittsabkommen mit der Regierung des Vereinigten Königreichs sorgt für Sicherheit, wo durch den Brexit Unsicherheit herrscht: Die Rechte der Bürger werden gewahrt und Frieden und Stabilität werden auf der irischen Insel gewährleistet.Das sind auch meine beiden Prioritäten.
Ich bin bereit, das Austrittsdatum erneut zu verschieben, sollte aus einem berechtigten Grund mehr Zeit erforderlich sein.In jedem Falle wird das Vereinigte Königreich unser Verbündeter, Partner und Freund bleiben.
Neuer Schwung für die Demokratie in Europa
Verehrte Abgeordnete,
als ich vor 13 Tagen hier in Straßburg ankam, habe ich Ihnen zugesagt, ein offenes Ohr für Sie zu haben. Ich habe Ihre Bedenken, Hoffnungen und Erwartungen vernommen. Die politischen Leitlinien, die ich Ihnen heute zukommen lassen werde, spiegeln unsere Gespräche wider. Aus dem, was ich gehört habe, habe ich Schlüsse gezogen und daraufhin Entscheidungen getroffen.
Zunächst möchte ich, dass die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union eine führende und aktive Rolle dabei spielen, die Zukunft unserer Union zu gestalten. Ich will, dass sie bei einer Konferenz zur Zukunft Europas zu Wort kommen, die 2020 beginnen und sich über zwei Jahre erstrecken soll.
Darüber hinaus möchte ich, dass wir gemeinsam daran arbeiten, das Spitzenkandidaten-System zu verbessern. Wir müssen es für mehr Wähler klarer sichtbar machen und wir müssen länderübergreifende Listen bei den Europawahlen als ergänzendes Instrument der europäischen Demokratie thematisieren.
Und ein dritter Punkt: Ja, ich unterstütze das Initiativrecht für das Europäische Parlament. Wenn das Parlamentmehrheitlich Entschließungen annimmt, in denen die Kommission zur Vorlage von Legislativvorschlägen aufgefordert wird, sage ich zu, darauf – unter uneingeschränkter Wahrung der Grundsätze der Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und besseren Rechtsetzung – in Form eines Rechtsakts zu reagieren.
Ich bin überzeugt, dass eine Stärkung unserer Partnerschaft dazu beitragen wird, der Stimme des Volkes noch mehr Gewicht zu verleihen.
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Europas Versprechen
Herr Präsident,
Mein Vater war 15 Jahre alt, als der schaurige Krieg, durch den mein Land Tod, Verwüstung, Vertreibung und Zerstörung über unseren Kontinent gebracht hat, endete.
Er hat seinen Kindern, mir und meinen 6 Geschwistern, oft davon erzählt. Er hat vor allem davon erzählt, was es für ihn bedeutet hat, dass die anderen Länder uns wieder die Hand gereicht haben, und uns in den Kreis der demokratischen Völker zurückgenommen haben. Er hat bei der Montan-Union angefangen und uns anfangs gesagt:
Wir treiben wieder Handel miteinander und wenn man Handel treibt, dann entstehen Freundschaften und Freunde schießen nicht aufeinander.
Er war Kabinettschef bei von der Groeben in der Hallstein Kommission und später Generaldirektor für Wettbewerbsfragen. Deshalb bin ich in Brüssel geboren und Europäerin gewesen, bevor ich später gelernt habe, dass ich Deutsche bin und Niedersächsin. Und deshalb gibt es für mich nur eines: Europa einen und stärken.
Wer mit mir dieses Europa stärken, wachsen und blühen lassen will, hat mich als leidenschaftliche Kämpferin an seiner oder ihrer Seite. Wer aber dieses Europa schwächen, spalten oder ihm seine Werte nehmen will, der findet in mir eine erbitterte Gegnerin.
Als mein Vater alt und an seinem Lebensende war, da hatte sich seine Erzählung von Europa verändert. Er sprach nicht mehr so viel vom Krieg. Er sagte: Europa ist wie eine lange Ehe. Die Liebe wird nicht größer als am ersten Tag, aber sie wird tiefer. Weil wir wissen, dass wir uns aufeinander verlassen können, in guten wie in schweren Zeiten. Weil wir wissen, dass wir streiten, aber uns wieder versöhnen können. Weil wir nie vergessen, warum wir diesen Bund eingegangen sind.
Wir hier alle in diesem Raum leben in einem Europa, das gewachsen ist, gereift ist, das stark geworden ist mit 500 Millionen Einwohnern. Über 200 Millionen Menschen sind zur Wahl gegangen.Dieses Europa hat Einfluss. Es will Verantwortung übernehmen für sich und diese Welt.
Das ist nicht immer leicht – das weiß ich – das ist schmerzhaft und anstrengend, aber es ist unsere nobelste Pflicht! Die Menschen wollen sehen, dass wir liefern, vorankommen. Die Jugend fordert das. Meine Kinder sagen mir zu Recht: Spielt nicht auf Zeit, sondern macht was draus.
Dazu bin ich angetreten. Dazu brauche ich Ihre Hilfe und Unterstützung. Dazu rufe ich alle Europäerinnen und Europäer auf, mitzumachen. Es ist das Kostbarste, was wir haben: Es lebe Europa, vive l’Europe, long live Europe.