Leitartikel von Philippe Dupichot, Professor an der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne), Generalsekretär der association Henri Capitant
Das durch den Brexit ausgelöste Erdbeben ruft diametral entgegengesetzte Reaktionen hervor. Für die einen besteht die Lösung in weniger Europa… Andere dagegen fordern ein stärkeres Europa! Aus den Reihen der Letzteren gibt es Stimmen, die sagen, der Euroraum werde ohne einheitliche Handelsregeln nicht vorankommen. Daher der Gedanke, eine Bilanz des bisher in der Gemeinschaft im Wirtschaftsrecht Erreichten zu ziehen: Vierzehn Akteure erarbeiteten unter der Führung der Association Henri Capitant das Werk „La construction européenne en droit des affaires: acquis et perspectives“ („Der Europäische Aufbau im Wirtschaftsrecht: Besitzstand und Perspektiven“), das kürzlich bei den Editions Lextenso erschienen ist. Mit einem Vorwort von Valéry Giscard d’Estaing und einer englischen und deutschen Übersetzung bietet es eine Übersicht über die Errungenschaften der Europäischen Union in zwölf Bereichen (Marktrecht, e-Commerce-Recht, Gesellschaftsrecht, Kreditsicherungsrecht, Vollstreckungsrecht, Insolvenzrecht, Bankrecht, Versicherungsrecht, Kapitalmarktrecht, Recht des geistigen Eigentums, Sozialrecht, Steuerrecht).
Was ist das Fazit?
Zunächst, dass das europäische Wirtschaftsrecht unter einem Mangel an Zugänglichkeit und Verständlichkeit leidet, der leider der europhoben Theorie eines ‘abgehobenen’, von außen auferlegten Rechts Vorschub leistet. Und weiter, dass sich der Aufbau des europäischen Wirtschaftsrechts heterogen und unvollendet präsentiert: Die Grundsätze der Subsidiarität und Proportionalität erwiesen sich oft als Hemmnis für ein wahrhaft europäisches Wirtschaftsrecht.
Und schließlich pflegt die Union einige gesetzgeberische ‘Marotten’: aufsichtsrechtliche Vorschriften, Überwachung der Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen oder Anlagedienstleister, Transparenz der Finanzmärkte, Unternehmensrestrukturierung, Kampf gegen Steuerbetrug usw. Diese Themen sind natürlich von entscheidender Bedeutung: Europa hat sich jedoch nicht ausreichend mit der Alltagspraxis seiner Händler und Unternehmer und ganz allgemein derjenigen befasst, die weder Bankiers, noch Versicherer noch Verbraucher sind… Fast 60 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge ist es mit dem Aufbau eines europäischen Wirtschaftsrechts nicht weit her.
Was also ist zu tun?
Es erscheint täglich bizarrer, dass die Europäer untereinander mit einer einheitlichen Währung, aber sehr unterschiedlichen Wirtschaftsrechten Handel treiben. Könnte sich der Austritt Großbritanniens nicht als förderlich dafür erweisen, dass das Kontinentalrecht – das die große Mehrheit der Mitgliedsstaaten gemeinsam hat – das Europa des Handels stärker strukturiert?
Dafür ist es ab jetzt wichtig, dass die das Wirtschaftsrecht betreffenden Gemeinschaftsnormen nach einem sowohl didaktischen als auch thematischen Plan kodifiziert werden. Durch Links könnte gewährleistet werden, dass der aktuelle Stand der Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht festgestellt werden kann. Ein Wirtschaftsgesetzbuch in Blau und Gold (den Farben der EU) könnte die Verständlichkeit des Unionsrechts verbessern und es den Bürgern Europas näherbringen.
Und langfristig könnte man mit der Gedanken eines echten europäischen Wirtschaftsrechts spielen, dessen fachliche Qualität zum Beispiel Ergebnis der Arbeiten eines aus herausragenden Juristen der Union bestehenden Hohen Ausschusses für Wirtschaftsrecht sein könnte.
Frankreich, das sein reformiertes Vertragsrecht am 1. Oktober 2016 in Kraft setzte, weiß, was es der Kodifikation verdankt. Müsste das Land nicht gemeinsam mit den anderen Gründerstaaten daraus ein kostbares Geschenk für die Europäische Union machen?
Könnte sich der Austritt Großbritanniens nicht als förderlich dafür erweisen, dass das Kontinentalrecht das wirtschaftliche Europa stärker strukturiert?